Soll und Haben – oder: was man aus einem 160 Jahre alten Buch über Digitalisierung lernen kann
Hintergrund
Soll und Haben ist ein heute längst vergessenes Buch aus dem Genre der Professorenromane aus dem Jahr 1855.
Einer der Handlungsstränge beschreibt einen adeligen Grundbesitzer, der intellektuell und organisatorisch – und in der Folge dann auch finanziell – an der Industrialisierung scheitert.
Es wird jedoch nicht die Karikatur eines starrköpfigen Junkers gezeichnet: der Herr Baron tut halt, was Barone halt so taten: Militärdienst, Verwaltung der Besitztümer, gesellschaftliche Verpflichtungen.
Doch die jahrhundertealte Prägung der Familie auf Grundbesitz überforderte den Adeligen in einer Zeit des rapiden Wandels.
Er vermochte nicht, sich in eine neue Welt von Aktien, Fabriken und Termingeschäften hineinzudenken – diese Welt war ihm so fremd, dass ihm auch die Motivation fehlte sich damit zu beschäftigen.
So nimmt der Niedergang des Barons und seiner Familie seinen Lauf und er verliert fast alles an Marktteilnehmer, die diese neue Zeit schon in Ihrer DNA tragen.
Folgerichtig gelingt dem Baron dann auch die Rettung seiner letzten Habe nur mithilfe eines Freundes aus dieser neuen Zeit.
Die Probleme
Es lohnt sich auf die Probleme zu schauen.
Sie resultieren daraus, dass eine erfolgreiche Familie mit jahrhundertealten Traditionen sich in einer Welt behaupten muss, die sie nicht mehr versteht.
Damit eignet sich dieser Fall auch so gut als Metapher für die Digitalisierung unserer Zeit:
Es gibt hier kein individuelles Versagen im eigentlichen Sinne: Es fehlt an einem Verständnis für eine neue Zeit und an einer Strategie, dieser zu begegnen.
Emotionale Ablehnung der Industrialisierung
Der Baron empfindet gegenüber Kaufleuten mit Ihren Aktien und Anteilscheinen eine ebensogroße gesellschaftliche Distanz wie vielleicht vor wenigen Jahren noch mancher Konzernboss irgendwelchen Startup-CEOs gegenüber.
Hier Grundbesitz mit hunderten Jahren Tradition, mit Landwirtschaft und Ställen – dort windige Papiere die es vor 10 Jahren noch nicht gab und die nun mehr wert sein sollen als Haus und Hof.
Diese innere Ablehnung der neuen Zeit ist der eigentliche Nukleus des Unglücks.
Kompetenzdefizit
Man tendiert dazu, sich nicht mit Dingen zu beschäftigen, die man ablehnt. So auch der Baron.
Daraus resultiert für den Baron ein gefährliches Kompetenzdefizit.
Er ist nicht in der Lage Chancen und Risiken zu bewerten, sondern hört hier mal das eine, dort mal das andere – eine wirkliche Bewertung ist ihm unmöglich.
Das setzt sich in der Auswahl seiner Berater fort: ohne die Möglichkeit einer fachlichen Abwägung vertraut der Braon letztendlich einem unseriösen Einflüsterer.
Dazu bleibt dem Beron der Gesamtprozess verschlossen: Er hört und erfährt nur Fragmente, die sich für Ihn zu keinem Bild zusammensetzen.
Damit hat er auch kein Verständnis für die beteiligten Parteien und Interessen.
Delegation an Personen mit entgegengesetzten Interessen
Der Baron versäumt bei seinen Beratern für eine Incentivierung zu sorgen, die mit den eigenen Interessen gleichgerichtet ist. Er verlässt sich auf eine traditionelle Loyalitätsvermutung. So befindet er sich alsbald in einer Situation, wo Kaufleute mit seinem Geld ihre eigenen Interessen verfolgen – und der Baron bleibt darüber viel zu lange im dunkeln.
Die grundsätzliche Stategie des Barons – die Sicherung und Vermehrung des Familienvermögens – spielte im Handeln seiner Berater keine Rolle, da sie für sich selber auf anderem Wege größeren Nutzen erreichen konnten.
Alte Prozesse in einer neuen Zeit
Und so sitzt der Baron auf seinem Schloss wie es seine Vorfahren seit Jahrhunderten taten:
Er wartete auf Boten oder schickte welche raus, befiehlt seine Berater zum Rapport und flucht, wenn dies länger als gewünscht dauerte.
Ihm war nicht bewusst, dass während er auf dem Schloß wartete und tat was er immer tat, sich die Welt draussen schnell weiterbewegte. Dort gingen eilig Briefe hin und her, Verträge wurden geschlossen, Schuldscheine wechselten Besitzer – aber da der Baron nicht teil des Prozesses war, blieb ihm all das verschlossen.
Fazit
So nimmt das Schicksal seinen Lauf und am Ende muß der Baron sein Familienschloß gegen eine halbe Ruine in der Provinz tauschen und kann diese nur unter Mühe erhalten.
Am Anfang dess Übels stand eine emotionale Ablehnung der Tatsche, dass die Welt eine andere wurde.
Dass etwas, das es vor 10 Jahren noch nicht gab, eine enorme Relevanz erreicht hatte, die all das in den Schatten stellte, was er an Hab und Gut besaß – das konnte und wollte er nicht sehen – Nokia läßt grüßen.
Dazu führte das eigene gesellschaftliche Selbstbewußtsein dazu, dass er bei Geschäftspartnern Respekt und Loylität vorraussetzte, wo doch nur eigene Interessen herrschten.
Viele Unternehmer befanden und befinden sich in einer ähnlichen Ausgangslage wie der Baron:
Man würde so gerne einfach so weiterexistieren wie bisher, aber ständig hört man irgendwas von der neuen digitalen Welt, der man sich nicht verschließen sollte.
Aber wie geht man am besten vor? Wie schätzt man Risiken und Chancen ein? Auf wen verläßt man sich?
Learnings
Der Baron und seine Zeit sind lange untergegangen. Dennoch läßt sich aus seiner Geschichte viel lernen:
Wo Wandel geschieht muß er angenommen und verstanden werden.
Noch viel mehr als der Baron leben wir in einer Zeit die stärker durch Wandel denn durch Konstanz gekennzeichnet ist. Man muß Wandel als eine Konstante im unternehmerischen Denken und Handeln annehmen.
Relevante Themen können nicht unverstanden delegiert werden. Die Unternehmensspitze muß diese Entwicklungen und Wirkungsmächte wirklich verstehen.
Eine Strategie muß auch deshalb an der Spitze vollständig erdacht und verstanden werden, um in der Lage zu sein, die Umsetzungsverantwortlichen kongruent incentivieren zu können – ohne dies wird die Strategie keine erfolgreiche Umsetzung erfahren.
Die Internen Prozesse müssen sich an der Schlagzahl der „Welt da draussen“ messen lassen. Reflektieren die interne Organisation und die Prozesse nicht die Drehzahl des Marktes in dem man sich bewegt, wird man sich nicht halten können.
Und die Drehzahl des Marktes wird heute in vielen Bereichen durch die Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts bestimmt:
Hier werden Optimierungen erdacht, neue Lösungen für alte Probleme entwickelt und Dinge entworfen, die vor 5 Jahren noch undenkbar schienen.
Damit wird auch Passivität zum Todfeind der Organisation:
Das in vielen Organisationen kulturgewordene Mantra „machste nix, machste nix falsch“ muß durch geeignete Zielvorgaben, eine neue Fehlerkultur, und höhere Experiemtierfreude aufgebrochen werden.
In einer Welt der Konstanz und Linearität sind Experimentierfreude und Fehlertoleranz potentiell schädlich.
In einer Welt des kontinuierlichen Wandels sind diese beiden Eigenschaften notwendige Voraussetzungen für das Fortbestehen eines Unternehmens.